In völliger Dunkelheit schreiten wir durch einen Garten. Um uns herum die murmelnden Geräusche der Nacht. Bald schon tut sich hier und da eine sanfte Lichtquelle auf. Sie lenkt unseren Blick auf fremdartige Geschöpfe. Zauberhaft andersartig und uns dennoch ähnlich gebärden sie sich wie transparente Fabelwesen auf mondschimmernden Lichtungen. Nähern wir uns diesen zarten Gestalten, wird uns langsam bewusst, was wir hier sehen: einzigartige Skulpturen aus abertausenden kleinen Klebstoffpünktchen.

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Foto: © Nirgül

Schöpferin dieser bis zu zwei Meter hohen geklebten Skulpturen ist die bildende Künstlerin Nirgül Kantar-Dreesbeimdieke, die sich selbst nur „Nirgül“ nennt. Ihre einzigartigen Kunstwerke, die es so tatsächlich kein zweites Mal auf der Welt gibt, haben ihr längst nationale und internationale Aufmerksamkeit beschert. Doch der Weg bis zur Entstehung dieser Fabelwesen war lang und beschwerlich. Größte Herausforderung: den richtigen Werkstoff finden.

Suchen, scheitern, nicht aufgeben

Nirgüls Vision war es von Beginn an metergroße Skulpturen zu erschaffen, die nicht nur organisch, sondern gleichzeitig auch transparent erscheinen. Zauberhafte Wesen, die den Blick nach Innen freigeben, das Licht auffangen und mit ihm spielen. Begonnen hat sie mit Figuren aus zahlreichen kleinen Metallspiralen, die sie in mit Spiritus gelösten Klebstoff tauchte, zusammenfügte und mit Maschendraht ummantelte. Der Draht jedoch gab dem Druck mit der Zeit nach und geriet völlig aus der Form. Außerdem störten sie die einengenden Zwänge des Drahts in der Formgebung. Ihre Figuren sollen die Zartheit, inspiriert vom Augenblick verkörpern. Eine andere Lösung musste her.

Nirgül begab sich in eine beschwerliche Phase aus Suchen und Experimentieren, aus Neuerfinden und wieder Verwerfen, aus Scheitern und Nichtaufgeben. Silikon, Harz, Quarz – sie setzte verschiedenartige Werkstoffe ein, die jedoch alle nicht das gewünschte Resultat erbrachten. Auseinanderspringende Spiralen, instabile Konstruktionen, ungenügende Festigkeit oder unausreichende Freiheiten – die Künstlerin musste zahlreiche Rückschläge verkraften. Bis ihr schließlich die rettende und alles verändernde Kartusche in die Hände fiel: ein besonders starker MS-Polymer Industrieklebstoff für die elastische Klebung unterschiedlicher Materialverbindungen im Innen- und Außenbereich.

Die Rettung kam mit dem Klebstoff

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Foto: © Nirgül

Nirgül hatte gesiegt. „Dieses Gefühl endlich zu Hause angekommen zu sein, in meinem Metier, in meiner Bestimmung, mit meinem Werkstoff, ist unbeschreiblich. Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, an dem plötzlich alles vollkommen war, verschlägt es mir noch heute die Sprache – und das passiert eher selten“, freut sich die Künstlerin noch heute über ihren Erfolg. Das besondere an dem Klebstoff bei der Verarbeitung: Er ist nicht nur flexibel genug, um einzelne Teilstücke in Form zu bringen und zu halten, sondern nach der Aushärtung gleichzeitig auch extrem stabil, elastisch, durchsichtig und absolut wetterbeständig. „Bei der Schaffung meiner ersten Wesen war ich so in Wallung, dass ich mich von meinem neuen Werkstoff nicht mehr losreißen konnte“, erzählt sie. Dabei hat sie gleich 3.000 Kartuschen des lösemittelfreien Materials verbraucht.

Geklebte Skulpturen

Der Duschende, die Saxophonspielerin, die Lavendeldame, die Wehklagenden, der große Engel – sie alle wurden in der Ausstellung „Magische Momente“ zum 100. Geburtstag des Botanischen Gartens in Gütersloh gezeigt. Heute befinden sich die Kunstwerke nach Shanghai- und Paris-Reisen in Nirgüls Isselhorster Atelier. Am besten zur Geltung kommen die magischen Wesen allerdings draußen im Dunkeln, eingefangen vom Spiel zwischen Licht und Schatten. Dann entfalten die Arbeiten ihre oftmals betörende, manchmal verstörende, doch immer bezaubernde Wirkung. Die organisch transparente Eiskristall-Optik der zauberhaften Figuren hat Nirgül erzielt, indem sie den transparenten, gelartigen Industrieklebstoff Punkt für Punkt aus der Kartusche auftrug. Viele tausend Male drückt die Künstlerin dafür auf die mit Luftkompressor angetriebene Kartuschenpistole. In ungezählten Stunden der Feinarbeit entstehen lebens- und überlebensgroße Skulpturen aus diesen Klebstoffpünktchen. Für eine Figur braucht die Künstlerin etwa ein dreiviertel Jahr. Doch diese Vorgehensweise bringt nicht nur den einzigartigen optischen Effekt mit sich. Gleichzeitig sorgt der Punktauftrag, bei dem jede einzelne Schicht komplett aushärtet bevor die nächste aufgetragen wird, für die enorme Stabilität der bis zu 200 Kilo schweren Kunstwerke.
In der Arbeit mit dem Kartuschenklebstoff geht Nirgül vollkommen auf. So hat sie mit der Bezeichnung „Nirglue“ kurzerhand ein neues Medium geschaffen, in dem sich Name und Werkstoff vereinen. Diese Vereinigung spiegelt sich wieder in ihren leisen, zarten doch ausdrucksstarken Inszenierungen. Eine harmonische Verbindung, perfekt komponiert.

Titelbild: © Nirgül