Die Europäische Union plant im Rahmen ihrer 2020 veröffentlichten „Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit“ zahlreiche neue Maßnahmen zum Schutz von Gesundheit und Umwelt. Dies wird weitreichende Auswirkungen auf das europäische Chemikalienrecht und somit auch auf die Klebtechnik haben. Laut Professor Dr. Andreas Groß, Abteilungsleiter „Weiterbildung und Technologietransfer“ am Fraunhofer IFAM (Bremen), könnte es im Rahmen dieser Chemikalienstrategie zu einem Paradigmenwechsel kommen. Das bedeutet, dass die bisherige risikobasierte Bewertung von Chemikalien und Gefahrstoffen (gemäß der europäischen CLP-Verordnung) zukünftig durch eine gefahrenbasierte Bewertung ersetzt werden könnte. Dies stellt auch für die Klebtechnik ein wesentliches Problem dar, denn aus einem kontrollierbaren Risiko, einem beherrschbaren Tiger, würde ein Meerschweinchen.

Schlößer (IVK): Zukünftig könnte uns die Umstellung von einer risikobasierten Bewertung von Chemikalien auf eine gefahrbasierte Bewertung bevorstehen.

Zumindest in der Öffentlichkeit wirkt sie auf den ersten Blick doch sinnvoll, oder?”

Groß: Aber wirklich nur auf den „ersten Blick“! Bei genauerer Betrachtung offenbart sich jedoch das Problem. Ich befürchte, dass die Öffentlichkeit und die politischen und behördlichen Entscheidungsträger die Konsequenzen eines solchen Richtungswechsels nicht oder nicht vollständig erfassen.

Was genau erwarten Sie denn als Problem?

Der auf Gefahrenwertung beruhende Regulierungsansatz ist zugegebenermaßen publikumswirksam, um nicht zu sagen populistisch: Er folgt der in der Öffentlichkeit vorherrschenden skeptischen Betrachtung bzw. dem Vorurteil, dass „Chemie“ grundsätzlich gefährlich ist. Das führt zu der verbreiteten Einschätzung, dass – vereinfacht gesagt – „Chemikalien“ grundsätzlich „Gefahrstoffe“ sind.

Wie man es drehen und wenden mag: Gefahrstoffe sind und bleiben aber nun einmal Gefahrstoffe …

Dem werde ich nicht widersprechen, und Sie werden von mir kein verharmlosendes Wort dazu zu hören bekommen! Der zentrale Aspekt für mich jedoch ist, wie wir mit Gefahrstoffen und mit Stoffen, auch chemischen Stoffen, allgemein umgehen. Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen: Wasser ist als heißer Wasserdampf gefährlich und ein Kleinkind kann in einem ein Meter tiefen Swimmingpool ertrinken. Trotzdem ist Wasser kein „Gefahrstoff“. Entscheidend sind immer die Zu- und Umstände und die Exposition, also das beabsichtigte oder unbeabsichtigte Ausgesetztsein gegenüber externen Einflüssen.

Keine Einwände – aber welche Herausforderung ergeben sich Ihrer Meinung nach daraus für die Klebtechnik?

Also, bereits vor über 500 Jahren prägte Paracelsus– die prägende Medizinerpersönlichkeit zwischen Mittelalter und Neuzeit und der Wegbereiter der pharmazeutischen Chemie – eine weise Erkenntnis: „Alle Ding sind Gift, und nichts ist ohn Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ Diese 500jährige Erkenntnis gilt bis heute uneingeschränkt. Und sie wird auch in den nächsten 500 Jahren nichts an ihrer uneingeschränkten Gültigkeit einbüßen.

Ok, aber das erklärt nicht die befürchteten Herausforderungen durch einen gefahrenbasierten Ansatz…

Eben doch! Wenn, was unbestreitbar richtig ist, „alle Ding Gift sind“, kann ich einem „Gift“, d.h. einem Stoff nicht ausweichen, auch einem gefährlichen nicht. Das heißt, es geht doch zunächst nicht um den Stoff, sondern darum, wie man damit umgeht.

Wie würden Sie das an einem möglichst allgemein verständlichen Beispiel verdeutlichen?

Stellen Sie sich vor, Sie besuchen einen Zoo und betrachten die Tiger. Diese Tiere stellen eine Gefahr dar, sie sind also das „Gift“ oder der „Gefahrstoff“. Dass alle Besucher sicher bleiben, liegt daran, dass sowohl die Zoobetreiber als auch die Besucher sich der Gefahr bewusst sind. Im Rahmen einer risikobasierten Bewertung wurden daher Schutzmaßnahmen ergriffen und umgesetzt: Der Tiger, das „Gift“ oder der „Gefahrstoff“, ist in einem Käfig untergebracht. Das bedeutet, dass Sie, ich und alle anderen unter vorhersehbaren Bedingungen und bei vorschriftsmäßigem Verhalten nicht mit dem „Gift“ oder „Gefahrstoff“, also dem Tiger in Kontakt kommen.

Schauen wir uns den Tiger dagegen in seiner Heimat, dem Dschungel, an, ändert sich am „Gift“ bzw. am „Gefahrstoff“ Tiger nichts. Es ändert sich auch gegenüber dem Zoobesuch nichts an der Gefahr, die von ihm ausgeht. Was sich aber im Dschungel dramatisch ändert, ist das Risiko, mit dem „Gift“ bzw. dem „Gefahrstoff“ Tiger in Kontakt zu kommen. Denn im Dschungel fehlen die Schutznahmen für eine Risikominimierung, die sich aus einer risikobetrachtenden Bewertung logischerweise ergeben.

Verstanden – es ist also entscheidend, jeglichen Kontakt zu vermeiden, der ein unakzeptables Risiko darstellt. Was genau ist nun die Herausforderung bei der gefahrenbasierten Betrachtung?

Das ist ganz einfach! Ich bleibe bei diesem Beispiel: Der Tiger, d.h. das „Gift“ bzw. der „Gefahrstoff“ wird bei einer gefahrenbasierten Betrachtung einfach verboten. Punkt! Wohlgemerkt, auch im Zoo! Und dass trotz dort nachweislich wirksamer, risikominimierender Schutzmaßnahmen, vorhersehbaren Zu- und Umständen und vorschriftsgemäßem Verhalten. Natürlich bliebe uns unbenommen, weiterhin in den Zoo zu gehen. Nur könnten wir dann keine Tiger mehr anschauen – denn die sind ja jetzt als „Gefahrstoffe“ dort verboten.

Das heißt, der Tigerkäfig wird frei…

…z.B. für Meerschweinchen. Das „Gift“ bzw. der „Gefahrstoff“ Tiger wird einfach durch ein „Nicht-Gift“ bzw. einen „Nicht-Gefahrstoff“, beispielsweise in Form von Meerschweinchen ersetzt.

Die Übertragung dieser Vorgehensweise auf Gefahrstoffe hört sich zumindest eigenartig an …

…richtig, durch den Paradigmenwechsel des Ersatzes der bewährten und erfolgreichen risikobasierten Bewertung durch die gefahrenbasierte Bewertung wird der „Gefahrstoff“ verboten – ohne Wenn und Aber! Und, was fatal ist, ohne Abschätzung der Folgen unter anderen Gesichtspunkten.

Zumindest wäre aber das Thema „Restrisiko“ final doch gelöst, oder?

Jein, nehmen Sie z.B. den Stoff Formaldehyd, der u.a. im Holz vorkommt. Formaldehyd ist ein  „Gefahrstoff“. Ihn zu verbieten, beseitigt aber nicht das Restrisiko. Bei einem Waldspaziergang können wir dort in der Natur vorkommende Formaldehydkonzentrationen messen. Folglich sind wir dieser Exposition ausgesetzt.

Darüber hinaus müssen wir einfach akzeptieren, dass wir unabhängig von „Gefahrstoffen“, in allen Bereichen unseres Lebens mit Restrisiken leben müssen. Sie können Ihr Haus, Ihre Wohnung einbruchssicher ausrüsten. Das Restrisiko eines Einbruchs können Sie trotzdem nicht ausschließen. Auch beim Fliegen, z.B. in den Urlaub, bleibt ein Restrisiko, trotz der höchsten Sicherheitsstandards im Flugbereich. Wenn Sie als Fußgänger eine Straße überqueren, und sei es noch so vorsichtig, es bleibt ein Restrisiko. Auch beim Zoobesuch zum Tiger-Anschauen bleibt ein Restrisiko: Sie vertrauen darauf, dass der Käfig sicher verschlossen ist und Sie mit „Gefahrstoff“ Tiger nicht in Kontakt kommen.

Was bedeutet das jetzt für die Klebtechnik?

Ganz einfach! Ersetzen wir den „Gefahrstoff“ Tiger jetzt beispielsweise durch einen „Reaktiv-Klebstoff“, z.B. auf Epoxidharzbasis. Dieser wird bei dem vorherrschenden risikobasierten Regulierungsansatz für Gefahrstoffe heute unter Einhaltung der erforderlichen kontakt- und gefährdungsvermeidenden Sicherheitsauflagen technologisch, ökonomisch und ökologisch erfolgreich mit minimalem Restrisiko eingesetzt. Bei einem gefahrenbasierten Regulierungsansatz würde der Epoxidharz-Klebstoff dagegen einfach verboten!

Was wäre die Folge?

Uns bliebe – genau wie beim Meerschweinchen-Besuch im zukünftigen Zoo – natürlich unbenommen, die Klebtechnik weiterhin einzusetzen. Nur dürften wir jetzt für Klebungen nur noch „Nicht-Gefahrstoffe“ in Form von „Kindergarten-Klebstoffen“ einsetzen. Bei 75m-langen Rotorblättern in Windenergieanlagen oder bei hochsicherheitsrelevanten Frontscheiben im PKW oder im ICE… Ich glaube, das lassen wir lieber!

Also müssen wir beim risikobasierten Regulierungsansatz bleiben, wenn wir die technische Entwicklung nicht behindern wollen…

Ich halte dies für unbedingt erforderlich! Durch die Beibehaltung des risikobasierten Bewertungsansatzes hat die Politik die Chance, genau das zu tun, was ihre Aufgabe ist. Sie muss Rahmenbedingungen in der Weise zu schaffen, die die Nutzung des international technisch Möglichen und Erforderlichen wieder in den Fokus stellt. Genau das ist eine zentrale Voraussetzung für Innovationen und deren Ermöglichung in unserem Land und in Europa. Machen wir uns eines klar: Klebstoffe werden nicht eingesetzt, weil es „chic“ oder „hip“ oder „modern“ ist. Der Einsatz der Klebtechnik folgt technologischen, ökologischen und ökonomischen Produktanforderungen, die am besten oder auch nur durch den Einsatz der Klebtechnik erfüllt werden.

Was würde passieren, wenn wir die Klebtechnik gefahrenbasiert bewerten und zukünftig so einsetzen?

Unsere technischen Möglichkeiten würden absehbar eingeschränkt. Denn geklebt wird heute von A – Z, vom Auto bis zur Zahnkrone, von Mikro bis Makro, unter Wasser, auf dem Wasser, auf dem Land und hoch am Himmel bis in den Weltraum. Es gibt heute kaum noch einen Bereich, in dem die Klebtechnik nicht eingesetzt wird bzw. eingesetzt werden muss. Dabei unterstützt das Kleben auch andere Ziele, die heute im Sinne einer nachhaltigen Produktgestaltung im Fokus stehen. Das Einkleben von PKW-Frontscheiben ist ein Beispiel. Die Scheibe wird durch die Verbindungstechnologie Kleben zum Konstruktionselement. Der geklebte Verbund trägt durch die so erzeugte erhöhte Fahrzeugsteifigkeit zur Gewichtsreduzierung bei. Soll heißen, der PKW wäre, wenn die Scheiben wie früher mit Gummidichtungen mechanisch eingesetzt würden, deutlich schwerer.

Ein weiteres Beispiel: Die Verbindungstechnologie Kleben in der PKW-Rohkarosserie. Hier tr trägt sie zur Insassensicherheit bei. Im Fall eines Frontalcrashs wird die Energie des Aufpralls durch die Wirkmechanismen der Klebtechnik im Motorraum aufgefangen und dadurch nicht in den Insassenbereich weitergeleitet.

Kleben ist ein wichtiger „Enabler“ für die angestrebte Energiewende. Die Rotorblätter der Windenergieanlagen sind rein geklebte Konstruktionen. Jede andere Verbindungstechnik würde die Energieausbeute derartig minimieren, so dass Windenergie kein Thema mehr wäre. Überhaupt wäre, die Entwicklung alternativer Energiequellen ohne Klebtechnik nach heutigem Stand der Technik undenkbar.

Und auch bei der Digitalisierung würden uns ganz schnell Grenzen gesetzt werden. Die IT-Hardware funktioniert in ihrer Leistungsfähigkeit nur, weil Klebstoffe als Verbindungstechnologie und zunehmend ebenfalls zum Wärmemanagement eingesetzt werden. Das gilt auch für Smartphones & Co. Es sind die Klebstoffe, die auch hier Erfüllung der steigenden Anforderungen überhaupt erst ermöglichen.

Danke für die zahlreichen Beispiele. Die Gefahr technologischen Rückschritts wäre also groß und zukünftige Entwicklungen in diesen und anderen Bereichen würden deutlich schwieriger, richtig?

Ja, aber mir ist noch ein anderer Punkt an dieser Stelle maßgeblich: Es ist wichtig, dass wir bei diesem Thema nicht oberflächlich oder polemisch sind. Aber, die „giftfreie Umwelt“ für Europa ist Utopie. Wie eingangs zitiert, gilt auch heute noch uneingeschränkt: „Alle Ding sind Gift und kein Ding ist ohne Gift.“ Demzufolge ist es de facto unmöglich, Restrisiken auszuschließen. Sie zu minimieren –das ist unsere Verantwortung und damit die zentrale Herausforderung. Daraus folgt für mich, in Deutschland und für Europa bei der Schaffung von Rahmenbedingungen die Nutzung des international technisch Möglichen und Erforderlichen wieder in den Vordergrund zu stellen. Und zwar bei Abwägung der Risiken. Und das ermöglicht – beispielsweise in der Klebtechnik, aber nicht nur dort – die bewährte risikobasierte Bewertung. Diese minimiert schon jetzt auf Basis der bestehenden Verordnungen die unvermeidbaren Restrisiken. Sie berücksichtigt schon heute weltweit beispielgebend die Gesundheits- und Umweltauswirkungen. Und trotzdem lässt sie dabei gleichzeitig den Raum für erforderliche Innovationen.

Die gefahrenbasierte Bewertung ist der Gegensatz dazu: Sie schafft nur Verbote und „erstickt“ dringend notwendige technologische Weiterentwicklungen. Und sie führt auch nicht zur „Giftfreiheit“. Ein „giftfreies Europa“ ist wie gesagt utopisch. Ein „giftfreies Australien“, ein „giftfreies Afrika“ usw. im Übrigen auch…. Gleiches gilt auch für Restrisiken.

Ein Argument für einen gefahrenbasierten Bewertungsansatz, wäre die Möglichkeit, Bürokratie und Regulierungen abzubauen – wie sehen Sie das? 

Ein gutes Beispiel für oberflächliche Betrachtungen. Das grundsätzliche Ziel des Bürokratie- und Regulierungsabbaus stelle ich nun bestimmt nicht infrage. Deren Abbau und dadurch nachweisliche Verbesserungen und Vereinfachungen für Behörden und Unternehmen dürfen nur nicht mehr nur mantra-artig verbal angekündigt werden. Es muss schnell und spürbar auch dazu kommen! Dies gilt auch für die Chemikalienstrategie. Bürokratie und Regulierungen müssen wieder in handhabbare Bahnen gelenkt werden.

Die Frage ist nur wie – die gefahrenbasierte Bewertung mag vielen auf den ersten Blick als geeignetes Instrument erscheinen. Frei nach dem Motto: „Verbieten ist vom Aufwand her doch einfacher als Risiken abzuschätzen, und es ist vor allem unbürokratischer!“ Um in meinem Zoo-Bild zu bleiben: Alle Tiere durch Kuscheltiere zu ersetzen, bedeutet dann aber auch, dass unsere industrielle Zukunft in Deutschland und Europa anders aussieht. Das wäre ziellose Disruption in Reinkultur.

Daher führt an der Beibehaltung des bewährten risikobasierten Ansatzes kein Weg vorbei. Die Ausrichtung auf die Nutzung des international technisch Möglichen und Erforderlichen bei der Schaffung von Rahmenbedingungen gehört in diesem Zusammenhang wieder unverrückbar in den Mittelpunkt –auch in der Chemikalienstrategie, auch für die Klebtechnik. Dahin wieder zurückzukehren, darin besteht eine zentrale Aufgabe der Politik.

Vielen Dank für das Gespräch Professor Dr. Groß.

DOWNLOADS:

Pressetext_deutsch als PDF runterladen

Pressetext_deutsch_ als DOCX runterladen

Pressetext_englisch als PDF runterladen

Pressetext_englisch_ als DOCX runterladen

Pressebild_01  als JPG  runterladen

Pressebild_02  als JPG  runterladen

Pressebild_03  als JPG  runterladen